Ganz neutral gesehen sind »Werte« bloße Orientierungen. Unabhängig davon, ob es um Menschenrechte geht oder um die Kochdauer eines perfekten Frühstückseies – immer bilden Werte einen Konsens bezüglich dessen ab, was im Hinblick auf eine konkrete Praxis als optimal bzw. erstrebenswert gilt. Kurzum: Werte sind normative Orientierungen, die von Menschen »gemacht« worden sind und sich von daher auch von Menschen verändern respektive verwerfen lassen. Nicht zuletzt deswegen gibt es auch in allen menschlichen Daseinsbereichen stets Kämpfe um die Anerkennung, Verwerfung oder Restitution von bestimmten Werten. Ein Kampf um die »richtigen« Werte tobt gegenwärtig – oder soll man eher sagen: immer noch? – in der Medizin, spezieller: in der Frage, wie die Grenzwerte für Bluthochdruck zu definieren sind. Nachdem diese in den USA aufgrund der sogenannten SPRINT-Studie auf 130/80 mm Hg abgesenkt wurden (oberhalb gilt man als Bluthochdruckpatient), sah die „European Society of Hypertension“ (ESH) auf ihrem jüngsten Kongress in Barcelona keinen Anlass dazu, es ihren amerikanischen Komplementen gleichzutun. Warum nicht?
Das Problem mit den Grenzwerten für Bluthochdruck
Das Problem mit den Grenzwerten für Bluthochdruck besteht laut der ESH primär darin, dass man schlichtweg zu wenige Evidenzen habe, die dazu zwingen würden, die bestehenden Werte zu korrigieren. Gemäß der aktuellen Definition für den europäischen Raum gilt als Hypertoniker der- bzw. diejenige, der oder die dauerhaft Werte von größer bzw. gleich 140/90 mm Hg aufweist. Erst ab diesem Grenzwert wird auch eine medikamentöse Behandlung induziert. Der Bereich für den normalen Blutdruck ist mit 120/80 mm Hg oder niedriger definiert. Werte zwischen 130/85 und 139/89 mm Hg gelten als hochnormal; Patienten, die in diesen Bereich fallen, werden vorerst nicht medikamentös behandelt; stattdessen wird ihnen zunächst eine Lebensstiländerung nahegelegt.
Ähnliche Werte galten bis vor kurzem auch im US-amerikanischen Raum. Doch die zuständigen amerikanischen Institutionen haben ihre Grenzwerte nun deutlich nach unten korrigiert. So gilt dort als bluthochdruckerkrankt nunmehr diejenige Person, die den Wert von 130/80 mm Hg überschreitet. Mit dieser Negativkorrektur sind also gleichsam über Nacht Millionen von Menschen zu Bluthochdruckpatienten erklärt worden.
Blutdruck wird oftmals nicht richtig gemessen
Doch das Problem liegt nicht nur in der mangelnden Evidenzbasis der besagten Studie, die die amerikanischen Experten zur Wertkorrektur veranlasste. Allein schon die Blutdruckmessung selbst kann vielmehr zu Fehlinterpretationen führen. So weiß man heute, dass die Blutdruckwerte, die in einer Praxis von einem Arzt erfasst werden, oftmals von den Blutdruckwerten, welche Menschen im Alltag aufweisen, abweichen. Zum Beispiel kann es sein, dass die Werte bei der Praxismessung aufgrund von Aufgeregtheit des Patienten höher als im Alltag ausfallen. Andersherum können sie aber auch ausgerechnet bei der Praxismessung völlig normal sein, während sie im Alltag dauerhaft erhöht sind. Man spricht dann von einer sogenannten »maskierten Hypertonie«.
In der Konsequenz kann es dazu kommen, dass Menschen jahrelang Blutdrucksenker einnehmen, obwohl sie eigentlich völlig gesund sind oder dass sie eben umgekehrt keine Medikamente bekommen, obwohl sie diese sehr dringend nötig hätten. Aus diesem Grund betonen Experten immer wieder, wie wichtig die Selbstmessung des Blutdrucks im Alltag mit einem Blutdruckmessgerät ist. Schließlich konnten gar etliche Studien bereits nachweisen, dass Patienten, die ihren Blutdruck im Alltag selbst messen – zusätzlich zur Praxismessung versteht sich -, wesentlich dazu beitragen, ein weitaus besseres Bild von den alltäglichen Schwankungen ihrer Blutdruckwerte zu zeichnen und dem Arzt somit dabei helfen, die Behandlung entsprechend besser einzustellen.